Auch wenn es sich vielleicht zuerst selbstmoerderisch anhoert, kann man es doch erlernen: „Radfahren in ShangHai“
Wenn man den Strassenverkehr mal ein bisschen beobachtet, koennte man auf die Idee kommen, dass es kaum Regeln gibt. Jeder will der erste sein und draengelt sich irgendwie durch. Das Masse-Vorfahrtprinzip scheint zu gelten (wie schon einmal erklaert: LKW>PKW>Fahrrad>Fussgaenger) und man kann an jeder Kreuzung – egal welches Lichtzeichen herrscht- einfach rechts abbiegen (Augen-zu-und-durch-Prinzip). Eine weitere kuriose Auffaelligkeit, ist dass Linksabbieger sich die Vorfahrt nehmen und zuerst abbiegen. Viele Verkehrsteilnehmer scheinen ohne vorher zu schauen aus Ein-und Ausfahrten zu fahren, abzubiegen oder zu wenden. Spiegel werden hauptsaechlich von den Frauen zum Kontrollieren des Make-up (bzw auftragen mm-dicker Sonnenschutzcreme verwendet und werden ansonsten hoechstens beruecksichtigt um Mobiltelefone, Ventilatoren oder Kameras (um im Falle eines Unfalls Beweismaterial zu haben) zu befestigen. Wenn man diese Dinge weiss, kennt man dann doch schon den Grossteil des (Gewohnheits-) Reglements im chinesischen Strassenverkehr. Man muss schonmal ein bis zwei Schritte vorausdenken, das vorhergenannte zu Herzen nehmen und deutlich defensiver fahren als in Deutschland – und schon ist man geeignet am Verkehr teilzunehmen und steigt mehrere Level ueber den durchschnittlichen Fahrfaehigkeiten langjaehriger chinesischer Verkehrsteilnehmer (Schadenfreiheitsklasse > 1 Jahr).
Nach Ermutigung durch Freunde, die langjaehrige Radfahrerfahrung in Shanghai besitzen, habe ich mir ein Rad angeschafft um mich selbstaendig fortzubewegen. Nach einigen ruhigeren Routen um Shanghai ging es dann auch schon mal ins Zentrum, wo der Verkehrsinfarkt schlechthin herrscht. Man merkt schnell, dass einen das Rad hier deutlich schneller voranbringt als jedes Taxi. Die meisten Strassen bieten eine extra Fahrspuhr fuer Zwei- und Dreiraeder an auf denen man schonmal vor dem Gros an Autofahrern bewahrt wird. Man muss zwar immer damit rechnen, dass einem auch hier Kraftfahrzeuge (insbesondere seien hier Betonmischer genannt) entgegenkommen, fuer die es einfach eine 500m Abkuerzung ist auf dem Radstreifen in entgegengesetzter Richtung zu fahren. Mit ihrer (fuer sie vorteilhaften) 150dB Hupe geben sie dem Massenprizip den noetigen Nachdruck, dass jeder sein Zweirad anhaelt und es auf den Gruen- oder Seitenstreifen schiebt. Dort wird gewartet bis der Koloss vorbei gefahren ist und sich der Staub nach einer Weile verzogen hat – bevor es weitergeht.
Kleinere Kollisionen bei urploetzlichen Spurwechseln ander Zweiradfahrer und Fussgaenger gingen zum Glueck bislang immer glimpflich fuer mich aus (Massenvorteil durch 1.9m Koerpergroesse)
Man sollte sich nicht mit Hausfrauen 50+ anlegen. Deren Ueberzeugung, dass sie grundsaetzlich im Recht sind plus ihr merkwuerdig frequentes Geschrei zwingt einen nach kurzer Zeit zur Aufgabe und schlaegt einen in die Flucht. (Wie ihre Maenner das nur aushalten…) Gottes Gnade, sich ihnen in den Weg zu stellen, wenn sie auf dem Weg zur allabendlichen Tanzgymnastik sind („Nothing can stop dancing aunties“).
Ein paar weitere Eventualitaeten vor denen man beim Radfahren auf der Hut sein sollte:
- Busse (die wohl aggressivsten Verkehrsteilnehmer)
- Minivans mit so massiv getoenten Scheiben, dass die Fahrer selbst kaum noch etwas sehen koennen (Es gilt noch mehr Abstand zu halten, wenn ein auswaertiges Kennzeichen angebracht ist)
- Zu jeder Zeit kann es passieren, dass Verkehrsteilnehmer anhalten und auf der Stelle wenden – egal ob es sich um einen Radfahrstreifen oder eine 6-Spurige Kreuzung handelt)
- Lastendreiraeder mit Ueberladungsfaktor 3-10
- Personen 50+ sind grundsaetzlich als Taub einzustufen – Man muss davon ausgehen, dass sie das Klingeln oder Rufen zum Ankuendigen des Ueberholvorgangs nicht wahrnehmen.
- Personen 15+ bis 30 mit Ohrstoepseln sind ebenfalls als Taub einzustufen
- Fahrzeuge mit ungesicherter Ladung (trifft wohl auf 98% zu). Insbesondere sei hier vor herabfallenden Melonen, Kartons oder Schutt gewarnt
- Telefonate haben hoehere Prioritaet als die Aufmerksamkeit im Strassenverkehr
- Bei Dunkelheit fahren mehr als 95% der Zwei- und Dreiraeder ohne Licht (hier ist eine leistungsstarke Beleuchtung zu empfehlen. Da die Mehrheit ohne faehrt, macht jeder Platz, weil es fuer den Normalbuerger aussieht als wuerde ein Auto von hinten heranfahren – (Vortaeuschen einer groesseren Masse – vgl. Massenprinzip))
- Bei Annaeherung von Bussen und schweren LKW sollte man sich auf die 150dB Hupe einstellen. (Die ersten Male waere ich fast vom Rad gefallen)
- Es kann jederzeit anfangen zu regnen – Wettervorhersagen sind sinnlos.
- Die Qualitaet des Untergrund kann innerhalb weniger Meter von „gut“ auf „unbefahrbar“ sinken
- Die Bremsleistung wird von vielen Fahrzeugen durch den Reibungskoeffizienten zwischen Schuhsohle und Strasse bestimmt.
Aber: wenn man das Umfeld erstmal ein bisschen erkundet hat und sich den Gegebenheiten und Gefahren bewusst ist, gibt es sehr schoene Wege die es zu befahren lohnt. Der Verkehr ist nicht ueberall so schlimm und man bewegt sich mit relativ kleiner Geschwindigkeit und hat dabei mehr Gelegenheit die Umgebung wahrzunehmen und zu entdecken. In China gibt es ja immer und ueberall was zu sehen, so dass sich oft das Anhalten lohnt um hier und da Eindruecke zu sammeln und den einen oder anderen Schnappschuss aufzunehmen.
Mittlerweile habe ich schon ueber 3100km in Shanghai auf dem Tachometer – Unfallfrei. Auf dem Weg zur Arbeit z.B. bin ich nur minimal langsamer als mit dem Auto – Und die Bewegung tut ja auch ganz gut.
Den letzten Ausflug am Dienstag (28.Juli bei 36C) nehme ich mal zum Anlass ein paar Bilder ueber die Ausfahrt zu veroeffentlichen.
Rad tour zum Flughafen in Pudong:
Manchmal regnet es auch so doll, dass wir in der naechsten Bar Unterschlupf suchten und trockene Werbe T-shirts kaufen:
Hier noch ein paar Eindruecke von den sonstigen Fahrten in diesem Jahr. Auf der naechsten Karte sieht man von blau bis rot meine zurueckgelegten Strecken (blau -wenig bis rot- viel befahrenen) . Man kann ziemlich gut sehen wo ich wohne und arbeite 🙂
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